Der Sprung ins Wasser

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Ulrike Neradt und ihr literarisch-musikalisches Kabarett

Schon mit neun Jahren stand für Ulrike ihr Traumberuf fest. Sie nahm sich fest vor: "Ich werde Deutsche Weinkönigin." Geboren als Winzertochter in Martinsthal, brachte die kesse Blondine zweifellos alle Talente mit, die man als Botschafterin für den deutschen Wein gebrauchen kann: Sie ist charmant und schlagfertig, heimatverbunden und weltoffen und dazu noch ausgestattet mit einer gehörigen Portion Lust, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Konsequent verwirklichte Ulrike Neradt, die damals noch Seyffardt hieß, ihren Traum, wurde zunächst Orts- und Gebietsweinkönigin, um schließlich 1972 die Krone der Deutschen Weinkönigin zu erringen.

Zwischen zahllosen internationalen Verpflichtungen, Kongressen und Festivals blieb sie jedoch auch der anderen Seite ihres Wesens treu, der Bodenständigkeit und bürgerlichen Solidität. Denn ein krasserer Gegensatz als der zwischen den Wonnen und Pflichten einer Weinkönigin und der Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin an der Universität Mainz lässt sich kaum denken. Und doch arbeitete Ulrike Neradt auch, nachdem sie die Krone weiterreichen musste, in der Forschung, heiratete und leitete schließlich vierzehn Jahre lang das Labor der Wiesbadener Rheumaklinik.
Immerhin aber gründete sie 1984 den Rheingauer Mundartverein, engagierte sich für die Rheingauer Kultur und Sprache und spielte in Mundartstücken.

Das künstlerische Talent konnte nicht unentdeckt bleiben. Der Mainzer Hofsänger Hans Hohner war es, der Ulrike Neradts sängerische Qualitäten erkannte: "Du hast eine Chansonstimme." Er brachte dem Naturtalent die nötigen technischen Finessen bei und überzeugte die vierzig Jahre alte Laborchefin, konsequent die Künstlerlaufbahn einzuschlagen. "Natürlich war das ein gewagter Sprung ins Wasser", erzählt Ulrike Neradt heute rückblickend, doch hat sie die Entscheidung keine Sekunde bereut.

Mehr als zwanzig Kabarettabende, davon acht Solo-Programme, hat Ulrike Neradt in den vergangenen Jahren bestritten. Vor allem für die ebenso frechen wie gefühlvoll-melancholischen Chansons von spitzzüngigen Diseusen wie Claire Waldoff oder Trude Hesterberg ist sie eine ideale Interpretin. Sie trifft den richtigen Ton zwischen Anzüglichkeit und Wehmut, sie hat das perfekte Gespür für Timing und für die Gefühle des Publikums. Gerade den weiblichen Zuschauern fühlt sie sich besonders verbunden. "Ich spüre, dass ich den Frauen mit meinen Liedern etwas vermitteln kann", sagt sie. Dabei fühlt sie sich "nicht als Emanze", aber sie findet, "dass Frauen oft immer noch ein bisschen zu ängstlich sind, ihre Chancen einfach zu ergreifen".

Mit dem Rheingau Musik Festival, bei dem Ulrike Neradt gemeinsam mit dem Schauspieler Till Krabbe, dem Bariton Berthold Possemeyer und dem musikalischen Rückgrat des literarisch-musikalischen Quartetts Alfons Nowacki in diesem Jahr den siebzigsten Auftritt feiern wird, hat sie ein ideales Forum für ihre Aktivitäten gefunden. Das Kabarett-Quartett, das händeringend nach einem treffenden Namen für sich sucht, hat in den vergangenen Jahren mit den Programmen "Ich weiß nicht, wohin ich gehöre" oder dem Goethe-Abend "Halb zog sie ihn, halb sank er hin" das Festival-Publikum begeistert. Dem so leicht wirkenden Spaß, den die vier auf der Bühne verbreiten, geht freilich monatelange Arbeit voraus.
Zuerst ist da ein Einfall, eine vielleicht noch verrückte Idee, mit der sich eine zweistündige, geistreich-witzige Reise durch Literatur und Musik verbinden ließe, es folgen Textsuche, Liedsuche, schließlich im Frühjahr das intensive Proben. Unter dem Motto "Für dich spiel ich gern mal die Leiche" steht am 11. August die Premiere eines heiter-makabren Gruselprogramms an.

In ihrem neuen Solo-Programm "Chansonettigkeiten" (Premiere am 28. Juli) - so auch der Titel einer CD - wird Ulrike Neradt zum ersten Mal ohne Überleitungstexte arbeiten. Gemeinsam mit Alfons Nowacki am Klavier wird dies "endlich mal ein Abend, an dem ich nur singe". Begeistert erzählt sie von ihrer Zusammenarbeit mit Nowacki, der als Arrangeur und Begleiter dafür sorgt, dass sie genau das singt, was zu ihr passt, dass sie sich ganz auf die Interpretation der Lieder konzentrieren kann.

Obwohl Ulrike Neradt neben ihrer Arbeit als Moderatorin des "Fröhlichen Weinbergs" im SWR fast vierzig Kabarett-Abende im Jahr bestreitet und sich ihr Radius über die Rheingauer Stammlande hinaus erweitert - in diesem Sommer bis nach Weilburg -, ist es noch immer das Rheingau Musik Festival, dem ihre Liebe gehört. Selbst die Tücken des Wetters gehören dazu. Einmal spielte sie, unterbrochen von Regenschauern. Jeweils nach drei, vier Liedern mussten die improvisierten Plastikabdeckungen von der Wasserlast befreit werden - "immer im ernstesten Moment". Und doch harrte das Publikum fast bis Mitternacht aus.
Solche Erlebnisse schweißen zusammen, und so ist es kein Wunder, dass Ulrike Neradt mittlerweile fester Bestandteil des Rheingau Musik Festivals geworden ist.

MATTHIAS BISCHOFF
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