Die Botschafterin des Rheingaus

Ulrike Neradt: Ein häuslicher Mensch und ein Temperamentsbündel auf der Bühne

MARTINSTHAL. Mit 40 Jahren krempelte sie ihr Leben um und widmete sich nur noch der Musik. Den Entschluss hat sie nie bereut. Ein Besuch bei Ulrike Neradt.

Von
Cornelia Diergardt

Es fehlt an allem: Bühne, Maske, Garderobe. Die Musik spielt nicht live, der CD-Player gibt sie wieder. "Das ist ein Mambo. Ein schöner Mainzer Mambo. So ganz mit Rambo-Zambo..." Die eingängige Melodie, eine Mischung aus Mainz und Havanna, erfüllt das geräumige Wohnzimmer im Martinsthaler Einfamilienhaus. Der Vier-Viertel-Takt zum Mitklatschen in dem bürgerlichen Domizil wirkt gewöhnungsbedürftig. Doch wenn ein Bühnen-Profi wie Ulrike Neradt zwischen Anrichte und Wintergarten spontan eine kleine private Einlage hinlegt, schwingt selbst in der Straße Am Steinberg die südamerikanische Leichtigkeit des Mambo mit.

Vor allem ist die nie versiegende Begeisterung der gebürtigen Martinsthalerin für Musik zu spüren. Und der Stolz auf das jüngste Projekt: das Musical "Feucht und Fröhlich" von Frank Golischewski. Eine Boulevard-Komödie mit Musik, für die Ulrike Neradt die Fastnachts-Größen der Region ins Boot holte. Ihren "erfahrenen Bühnen-Ehemann" Nick Benjamin, "Gelle gern"- Margit Sponheimer, den kabarettistisch und auch körperlich gewichtigen Heinz Meller, die in Wiesbaden geborene Hildegard Bachmann, den kosmopolitischen und zugleich heimatverbundenen Norbert Roth. Erzählt Ulrike Neradt von dem Ensemble, hört es sich an wie ein fröhliches Treffen alter Klassenkameraden - entspannt und reich im Miteinander der jahrelangen Erfahrungen.

Seit 1994 moderiert und singt Ulrike Neradt mit dem Sterne-Koch Johann Lafer den "Fröhlichen Weinberg" des SWR-Fernsehens. Sie leitet seit 20 Jahren den "Rheingauer Mundartverein". Sie interpretiert Lieder und Texte des "genialen Filous" Hollaender, die "heitere" Seite von Tucholsky. Ulrike Neradt mag die "klare Nüchternheit" von Kästner sowie die Gassenhauer von Claire Waldoff. Seit 16 Jahren zählt sie zu den Stamm-Interpreten des Rheingau-Musik-Festivals. Sie schrieb die beiden Mundartbücher "Wie en Spatz in de Kniddele" sowie "Wo is die eebsch Seit?" und ist im Kurier mit ihrer Kolumne "Rheingauer Gebabbel" vertreten.

Bekannt wurde Ulrike Neradt als Deutsche Weinkönigin. Bis heute hat sie als einzige Rheingauerin diesen Sprung geschafft. Das Repräsentieren für Reben und Region gab der damals 21-Jährigen den "gewissen Schliff", eine Art "Wendigkeit" auf dem gesellschaftlichen Parkett zu einer Zeit, als andere ihrer Generation Häuser besetzten oder für die Rechte der Frauen auf die Straße gingen. Die junge Neradt, die bis zu ihrer ersten Ehe im Jahr 1976 im elterlichen Zuhause lebte, zählt zweifellos zu der bürgerlich-angepassten Fraktion, die sich nicht in der Rebellion gegen das Etablierte übte. Neradt selbst: "Ich war damals ein richtiges Landei."

Wegbereiter für den musikalischen Werdegang waren auch nicht die Stones oder gar Led Zeppelin, sondern die Mutter, der Eltviller Musikprofessor Hans Hohner, Mundartdichterin Hedwig Witte und Tante Ria. Drohte eine künstlerische Krise, stand stets Mutter Rosemarie treu sorgend parat. Hans Hohner war vom ersten Vorsingen mit "zwei Lalas bei nur fünf Tönen" von Neradts Begabung ganz und gar nicht begeistert. Jedoch räumte der Musikprofessor der jungen Neradt nach ihrem ersten Auftritt in der "Hallgarter Jungfer" Talent zum Chanson ein. Hohner war plötzlich überzeugt: "Mäckie Messer" aus der Dreigroschenoper von Brecht sitzt allemal drin. Darauf reagierte Hedwig Witte, wie Neradt heute meint "weitsichtig" und ermahnte: "Dei Heimat und die Mundart müsse aach immer en wichtische Platz in dein Leben habbe." Gut, das Tante Ria noch lebte.
Die flotte Lehrerin mit Wohnung im fünften Stock im schicken Wiesbadener Quellenviertel, Auto und Farbfernsehen umgab der Hauch des Modern-Mondänen. In ihrer ruhigen Art gab die ledige Frau der jungen Ulrike starken Rückhalt.

Da war die "unbeschwerte Kindheit" mit der Tanzstunde bei Paula in Geisenheim schon lange vorbei. Auch mit Bluna und "Bravo", der Jugendzeitschrift, dank deren Puzzle-Poster sich Teenager Ulrike aus ihrem Idol Pierre Brice alias Indianer-Häuptling Winnetou, einen ganzen Mann bastelte. Nach ihrer Schulzeit bei den katholischen Ursulinen in Geisenheim ergriff Ulrike Neradt den Beruf als immunologisch-technische Assistentin. Doch mit den Jahren ließen sich Musik und Labor-Job immer schwerer vereinbaren. Ulrike Neradt, die einen sportlichen Ehrgeiz entwickeln kann, entschloss sich zum radikalen Schnitt.
1990 hing sie als 40-Jährige ihren erlernten Beruf an den Nagel, widmete sich fortan nur noch der Musik und meinte, auf eine "Katastrophe zuzusteuern". Der Golfkrieg brach aus. Gesellige Veranstaltungen wurden abgesagt. Die Engagements ließen auf sich warten.
Heute weiß Ulrike Neradt um das "Auf und Ab" in der Branche, das die "penible Arbeiterin" längst nicht mehr aus der Ruhe bringt. Genau so, wie sich der einst "flotte Feger", der sich heute als "häuslicher Mensch" bezeichnet, "keine Angst vor Aussetzern" auf der Bühne hat. Die kleinen Momente sind der 54-Jährigen bei aller Liebe zur Musik wichtiger geworden: Das morgendliche Nordic Walking oder das gemeinsame Mittagessen mit Fritz, mit dem sie seit 23 Jahren in zweiter Ehe verheiratet ist. Oder die Begegnungen mit Freunden aus der Kindheit, die sie "offen und gradlinig durchs Leben begleiten".
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